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  • Corina Lendfers

Und dann passiert es.

Und dann passiert es - Krankheit verändert unser Leben

Unser Leben in der Multioptionsgesellschaft ist spannend. Wir haben mehr Möglichkeiten als jemals zuvor, sowohl im Kleinen, z.B. beim Einkaufen im Supermarkt, wie auch im Großen. Wir sind so frei in der Berufswahl wie niemals vorher, können jeden Winkel der Welt erreichen, unser Aussehen und sogar unser Geschlecht verändern, wie es uns gefällt. Wir sind es uns gewöhnt, wählen zu können, eine Situation zu verändern oder zu verlassen, wenn sie uns nicht mehr gefällt. Die Quantenphysik erklärt uns, dass wir durch unsere Gedanken unser Leben verändern können, indem wir unser Denken und Fühlen auf ein Ziel in der Zukunft ausrichten, das wir gerne erreichen möchten. Unbegrenzte Möglichkeiten. Wir sind Weltmeister im Träumen, lieben Unverbindlichkeit, Eventualität und Flexibilität. Wir sind es gewohnt, unser Leben nach unseren Plänen zu gestalten. Oder zumindest meinen wir, dass wir das tun.


Und dann passiert es.

Etwas, mit dem wir nicht gerechnet haben. Das wir nicht eingeplant haben. Das keinen Platz hat in unserem durchgeplanten, meist durchgetakteten Leben. Etwas Unvorhergesehenes. Ungeplantes. Manche Ereignisse lassen uns stolpern und einen Moment innehalten. Der plötzliche Tod eines geliebten Menschen. Wir verlieren den Boden unter den Füßen, trauern. Der Verlust unserer Arbeitsstelle. Wir zweifeln an uns selbst, bemitleiden uns, sind wütend. Dann rappeln wir uns auf, orientieren uns neu und gehen weiter. Das Erlebte hinterlässt Wunden, die heilen.


Manchmal aber, da ist das Leben eigenwillig. So eigenwillig, dass es sich nicht mehr von uns steuern lässt. Dann, wenn es um Gesundheit geht. Wenn etwas in uns nicht mehr so funktioniert, wie es sollte. Oder wenn unser Partner, unsere Mutter, unser Kind schwer erkrankt. Wenn es dann auch noch eine Krankheit ist, für die es kein Medikament und keine Chemotherapie gibt, die nicht in nützlicher Frist geheilt werden kann, dann begreifen wir allmählich, dass wir nichts mehr im Griff haben. Dass das Leben mehr ist als ein Spiel, in dem wir Zug um Zug planen, um irgendwann an einem vorher definierten Ziel anzukommen. Dann verstehen wir, dass Leben mehr ist als das.


Wir lernen, dass wir uns dem Leben manchmal anpassen müssen.

Das ist für viele von uns eine sehr unbequeme Erfahrung, haben wir doch gelernt und bisher meist auch erfahren, dass wir selbst für unser Glück verantwortlich sind. Das dachte ich auch. Bis eines meiner Kinder an Anorexie erkrankte. Magersucht. Die psychische Erkrankung mit der höchsten Todesrate. Eine heimtückische, brutale Krankheit, für die es kein Medikament und keine Therapie gibt, die einen sicheren Heilungserfolg verspricht. Nur 30% aller Erkrankten werden aktuellen Studien zufolge wieder ganz gesund. Viele betroffene Kinder verlieren ihre Jugend in monate-, manchmal jahrelangen Klinikaufenthalten an die Krankheit.


Nie zuvor in meinem Leben fühlte ich mich so hilflos.

Wenn die Angst allgegenwärtig wird, dann verliert das Leben seinen Reiz. Dann verblassen die Farben, verstummt die Musik, schwindet die Kraft, bis nur noch die Hoffnung übrig bleibt. Wir gaben die Hoffnung nie auf. Nach vielen Monaten, in denen wir orientierungslos nach den psychischen Ursachen der Krankheit suchten und keine fanden, stießen wir auf das Family Based Treatment, einen familienbasierten Therapieansatz aus dem angelsächsischen Raum. Wir fanden endlich die richtigen Informationen, lernten, dass es eine genetische Veranlagung für Anorexie gibt, die durch ein Energiedefizit ausgelöst wird. Und dass Essen die einzige Medizin war. Wir verstanden, dass unser Kind nicht nicht essen wollte, sondern nicht konnte, und dass es unsere Hilfe brauchte.


Wir gingen gemeinsam durch die Hölle.

Und lernten, dass die Hölle einen Ausgang hat. Wir wünschten uns sehnlichst unser altes Leben zurück, unser Leben, in dem wir den Takt vorgegeben hatten. In dem wir uns mit Alltagslappalien herumgeschlagen hatten. Stattdessen waren wir gezwungen, jeden Tag aufs Neue für unser Kind den Kampf zu kämpfen, dem es alleine nicht gewachsen war. Einen Kampf, der uns Eltern an unsere Grenzen brachte - und darüber hinaus. Unser altes Leben stand auf Pause, während sich unser neuer Alltag nur noch um Kochen, Essensbegleitung, das Abfangen von Panikattacken und Verhindern von Selbstverletzung drehte. Wir hatten nur noch ein einziges Ziel: Unser Kind aus dieser tödlichen Krankheit heraus zu holen.


Wir haben es geschafft. Wir haben gelernt, dass es Situationen gibt im Leben, in denen wir die Kontrolle abgeben und uns der Situation fügen müssen. Auch wenn es weht tut. Dass es anders läuft, als wir es geplant haben, und dass wir daran wachsen können. Unser Kind ist heute wieder gesund und vollkommen frei von allen Krankheitssymptomen.

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