Stabilität - nötiger denn je
- Corina Lendfers
- Sep 17
- 4 min read

Das Leben ist komplex geworden. Jedenfalls komplexer, als es vor der Digitalisierung war. Und vor der Putinisierung. Und der Trumpetisierung. Und der KI-tisierung. Und überhaupt. (Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt Sinn macht, dass ich weiterschreibe. KI kann das ja auch, wie man u.a auf dem überfluteten Buchmarkt sieht. Aber dann denke ich, dass ich gerade darum weiterschreiben muss, denn KI ruft ja nur ab, was sie im Netz finden kann. Insofern trage ich zur Entwicklung/Schulung der KI bei, und darum schreibe ich - ganz selbstbewusst - weiter...)
Zurück zur Komplexität. Früher war es einfach, als man sich nur an einem Gott orientieren konnte. Ob es besser war, stelle ich in Frage, aber es war einfacher. Heute werden wir fast täglich mit neu definierten Gottheiten überflutet, die länger oder kürzer Bestand haben, und finden dadurch weniger Orientierung denn je.
Was wir dringend brauchen, ist Stabilität.
Die zu finden ist eine Herausforderung, denn Leben bedeutet letztlich Veränderung. Stabilität kann uns am wahrscheinlichsten das geben, was sich möglichst langsam verändert. Das Internet können wir demnach ausschließen, ebenso die Mode, die Wissenschaft mit ihren täglich neuen Erkenntnissen, Ernährungstrends oder auch (digitale) Freundschaften. Wer in der analogen Zeit groß geworden ist, hat manchmal das unbezahlbare Glück, auf stabile physische Freundschaften zurückgreifen zu können, die weniger anfällig auf Veränderungen zu sein scheinen als Beziehungen der Generation Z. Das wesentliche Problem bei diesen etablierten physischen analogen Beziehungen ist, dass sie allmählich aussterben, im wahrsten Sinne des Wortes.
Was bleibt also, wenn um uns herum alles geht?
Die Antwort ist einfach und schwierig zugleich: Wir selbst. Natürlich verändern wir uns auch, aber unsere Persönlichkeitsstruktur ist relativ träge und bleibt trotz rasanter äußerer Veränderungen erstaunlich stabil. Das merken wir im Alltag als Eltern, wenn wir unsere Kinder von etwas überzeugen möchten, das uns wichtig ist, ihnen aber überhaupt nicht. Oder beim Partner, der sich partout nicht so verändern möchte, wie es uns passen würde. Oder an der Zunahme psychischer Erkrankungen, die im Kern letztlich darauf zurückzuführen sind, dass das Außen nicht mehr mit dem Innen übereinstimmt, sich also schneller verändert als unsere Psyche.
Ich finde diese Erkenntnis großartig, dass wir Stabilität in uns selbst finden können. Ich weiß, sie ist nicht neu, aber ich finde, sie bekommt in der aktuellen Zeit eine hohe Relevanz. Und sie entlastet enorm. Wir müssen nicht ständig auf dem Laufenden sein über aktuelle Trends, Erwartungen oder Entwicklungen, denn was heute als richtig und erstrebenswert gilt, ist morgen bereits wieder falsch und sollte besser vergessen werden. Die Auseinandersetzung mit unserer eigenen Persönlichkeit ist anstrengend, kann schmerzhaft oder auch befreiend sein, braucht viel Geduld und ist manchmal auch ganz schön frustrierend. Aber letztlich lohnt sich der Aufwand. Für uns selbst und für unser Umfeld. Wie oft möchten wir helfen - unseren Kindern, Freunden oder Eltern - aber wir wissen nicht, wie. Wir wissen, dass Ratschläge auch Schläge sind und besser nicht verteilt werden sollten. Aber wie können wir dann helfen?
Wenn wir in uns selbst stabil sind, können wir alleine durch unsere Anwesenheit und unser Zuhören Sicherheit vermitteln, die oft mehr wert ist als die teuerste Psychotherapie. Um anderen Geborgenheit zu geben, braucht es unser authentisches Dasein und unser Interesse am anderen, mehr nicht. Wir brauchen kein Wissen oder komplizierte Erklärungsansätze - das hat KI -, sondern Zuneigung.
Innere Stabilität bedeutet übrigends nicht, frei zu sein von Zweifeln, Ängsten oder Unsicherheit.
Diese Emotionen gehören dazu. Sie können unsere Persönlichkeit beeinflussen, wenn sie über lange Zeit sehr dominant sind, aber im Normalfall kratzen sie bloß ein bisschen daran, ohne nachhaltig Einfluss zu nehmen. Darum haben sie mit unserer Persönlichkeit in der Regel nichts zu tun und wir können sie zur Seite schieben, wenn wir uns mit uns selbst befassen.
Wie wir ein Bewusstsein für unseren Wesenskern entwickeln, ist sehr individuell. Die Frage, wofür wir als Kind gebrannt haben, kann als Wegweiser dienen, denn als Kinder waren wir in der Regel am wenigsten von Außen beeinflusst. Natürlich macht es keinen Sinn, heute wieder mit Puppen zu spielen, weil wir es im Alter von fünf Jahren geliebt haben. Aber Nachdenken darüber, was uns damals an diesem Spiel begeistert hat, könnte hilfreich sein, um einen Teil unserer Persönlickeit zu identifizieren. War Geduld schon immer eine Stärke, oder habe ich sie mir antrainiert, weil es von mir verlangt wurde, und eigentlich war ich schon immer ein Hansdampf in allen Gassen? Unsere Attribute, die uns gegeben werden oder die wir uns oftmals auch selbst geben, genau zu hinterfragen, kann hilfreich sein, um uns zu unserem Wesenskern durchzuschälen.
Dieser Kern ist es, der stabil in uns ruht und uns letztlich ausmacht.
Der bleibt, egal, wie wild das Leben um uns herum tobt. Egal, ob gerade Schlaghosen oder vegan in ist, ob Marsmenschen auf der Welt landen oder eine neue Pandemie alle Gesetze außer Kraft setzt. Wer ein wenig Unterstützung in Sachen Stabilität sucht, kann sie übrigens auch in der Natur finden. Berge und das Meer dürften zu den stabilsten Dingen dieser Erde überhaupt zählen und uns wohl um weitere Milliarden Jahre überdauern.